 |
Ein Mann bei der Arbeit: Reich-Ranicki in jüngeren Jahren |
13. Oktober 2006
Nein,
es gibt einen Satz in diesem hervorragenden Fernsehporträt von Marcel
Reich-Ranicki, der nicht unwidersprochen bleiben darf. Er fällt nach
105 Minuten, ganz am Ende dieses Films, den Lutz Hachmeister und Gert
Scobel dem berühmtesten lebenden Literaturkritiker gewidmet haben. Er
fällt, nachdem wir immer wieder Sätze gehört haben, die uns aufhorchen
lassen, weil wir glauben, daß mit ihnen eine Summe gezogen und die
Person Marcel Reich-Ranickis im Kern erfaßt und auf den Punkt gebracht
würde.
Wir
glauben dies etwa, wenn wir sehen, wie Alfred Biolek den Kritiker
fragt, ob er ihn als Entertainer bezeichnen dürfe, und Reich-Ranicki
hocherfreut zustimmt. Oder wenn der Schriftsteller Dieter Wellershoff
dem Kritiker einen ausgeprägten „Sinn für das Erzählen“ bescheinigt und
Frank Schirrmacher an die berühmte Episode aus der Autobiographie „Mein
Leben“ erinnert, in der Reich-Ranicki beschreibt, wie er nach der
Flucht aus dem Warschauer Ghetto bei einem polnischen Drucker überlebt,
dem er abends die Werke der Weltliteratur erzählt, als seien sie
allesamt Unterhaltungsromane.
Der Schlüssel zu diesem Leben
 |
Meine Frau, mein Auto: Teofila und Marcel Reich-Ranicki in den Sechzigern |
Hier haben wir den Schlüssel zu diesem
außergewöhnlichen Leben, so denken wir immer wieder, wenn wir ihm
selbst lauschen und hören, wie er etwa über seine Schulzeit im Berlin
des „Dritten Reiches“ spricht, über die Einsamkeit des polnischen
Jungen, der sich seine Mitschülern unterlegen fühlt, der sich nach
„Gleichberechtigung“ sehnt, auch nach Anerkennung, und sich ein Feld
sucht, auf dem er beides erringen kann. Das ist zunächst die
Mathematik, wenig später dann die Literatur. Aber die Entscheidung,
sein Leben der Literatur zu verschreiben, fällt erst viele Jahre
später, sie fällt in einer Einzelzelle in Warschau, die auf den
ehemaligen Konsul des kommunistischen Polen in London gewartet hatte,
als er aus England abberufen wird - schon wieder eine Schlüsselszene.
Zu
diesem Zeitpunkt, 1949, ist Marceli Reich neunundzwanzig Jahre alt, und
Hachmeister und Scobel haben uns bereits eine Fülle von Bildern
präsentiert: Wir haben Eindrücke vom Geburtsort, dem polnischen
Wloclawek an der Weichsel, empfangen und die leise Überraschung in
Reich-Ranickis Gesicht gesehen, als ihm Hachmeister berichtet, wer
damals, als er das Berliner Fichte-Gymnasium besuchte, im Gebäude
gegenüber ein- und ausging: Es war Adolf Eichmann, der die Dienststelle
des Reichssicherheitshauptamtes aufsuchte.
Wie aus größter Distanz
 |
1943 im Warschauer Ghetto |
Das unvorstellbare Elend im Warschauer
Ghetto, den Selbstmord seines zukünftigen Schwiegervaters, den Tod des
Bruders in einem Arbeitslager der Nazis, die Angst zusammen mit seiner
Frau Teofila im Versteck - all dies beschreibt und kommentiert Marcel
Reich-Ranicki scheinbar gelassen und wie aus größter Distanz. Nur ein
einziges Mal, als er die qualvolle Enge im Getto erwähnt, wo die Nazis
die Menschen „zusammengepfercht“ hatten, betont er die letzte Silbe des
Wortes so stark, daß sich für einen winzigen Augenblick die ganze
Gewalt und Brutalität des Vorgangs mitzuteilen scheint.
„Ich,
Reich-Ranicki“, den das ZDF an diesem Freitag abend um 22.35 Uhr zeigt,
ist der erste große Film über den Kritiker seit vielen Jahren. In mehr
als einjähriger Arbeit ist ein leises, nachdenkliches und sehr
intensives Porträt entstanden, das zahlreiche Stationen dieses Lebens
nachzeichnet, kenntnisreich und gewissenhaft, glänzend geschnitten und
montiert. Die Hintergründe der Londoner Geheimdiensttätigkeit und des
sich anschließenden Parteiausschlußes werden von dem polnischen
Publizisten Janusz Tycner beleuchtet, ein kurzer Film aus dem Jahr 1958
zeigt den noch in Polen lebenden Kritiker erstmals im deutschen
Fernsehen, und erstmals äußert sich auch der noch in London geborene
Sohn Andrew vor einer Kamera über den Vater, der das mathematisch
begabte Kind nie zur Literatur habe zwingen wollen.
Zur Sache
 |
Mit Sohn Andrew am Timmendorfer Strand |
Auch die zahlreichen Konflikte im Leben des
Kritikers bleiben nicht unerwähnt; das Zerwürfnis mit Joachim Fest
ebenso wenig wie jenes mit Sigrid Löffler oder Martin Walser. Aus der
unüberschaubaren Menge des Bildmaterials und der Stimmen und Kommentare
haben Hachmeister und Scobel klug das Wesentliche ausgewählt. Zu Wort
kommt nur, wer Substantielles zu sagen hat, also, wie Reich-Ranicki
sagen würde, „zur Sache spricht“.
Das
tut er, kein Wunder, vor allem selbst, wobei er Deutungen stets den
anderen überläßt. Nur am Ende weicht er davon ab und liegt prompt
falsch: „Das alles, was ich getan habe, konnten andere Leute auch tun.“
Das ist zwar ein schöner letzter Satz für einen wahrlich
beeindruckendes Filmporträt, als Resümee eines einzigartigen
Kritikerlebens jedoch unbrauchbar. Dieser Satz ist, um es mit einigen
seiner Lieblingsausdrücke zu sagen, vollständig falsch und mit keinem
Wort wahr.
Lieber Marcel Reich-Ranicki, niemand sonst hat es, niemand sonst hätte es so tun können wie Sie.